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Verbot der Kundgebung der Jungen Nationaldemokraten in Singen am 20.10.2007 darf nicht (sofort) vollzogen werden

Datum: 17.10.2007

Kurzbeschreibung: Pressemitteilung vom 17.10.2007

Das Verwaltungsgericht hat heute über einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden, mit dem sich der Landesverband Baden-Württemberg der Jungen Nationaldemokraten gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Verbotsverfügung der Stadt Singen vom 10.10.2007 gewandt hat (Beschluss vom 17.10.2007 - 6 K 2153/07 -). Die Kammer hat dem Antrag - mit der Maßgabe, dass es der Stadt vorbehalten bleibt, noch einzelne Auflagen zu verhängen, soweit diese zum Ausschluss von Gefahren notwendig sind - stattgegeben. Dies bedeutet, dass die Kundgebung stattfinden darf. Das Gericht hat sich maßgeblich von folgenden Erwägungen leiten lassen:

Das Versammlungsverbot ist offensichtlich rechtswidrig; es steht im Widerspruch zur einschlägigen verfassungs- und verwaltungsgerichtli­chen Rechtsprechung.

Hinreichende Anhaltspunkte für eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Si­cherheit bei Durchführung der Versammlung sind nicht ersichtlich. Für die versammlungsrechtliche Ge­fahrenprognose gelten nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge­richts zum Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) strenge Anforderun­gen; bloße Verdachtsmomente und Vermutungen reichen insoweit nicht aus. Soweit die Stadt darauf hinweist, dass mit Straftaten aus der angemel­deten Veranstaltung heraus zu rechnen sei, fehlt ein hinreichend konkreter Bezug zu der ge­planten Veranstaltung.

Auch soweit die Stadt auf die zwischenzeitliche Anmeldung umfangreicher Ge­gendemonstrationen ver­weist und die Befürchtung hegt, unter den Gegendemonstranten befänden sich auch dem linken/autonomen Spektrum zuzuordnende militante Gruppen, so dass mit hoher Wahr­scheinlichkeit ein gewalttätiger Schlagabtausch rechter und linker Gruppen zu erwarten sei, der aus polizeilicher Sicht nicht mehr beherrscht werden könne, lässt die Stadt die notwendige Substantiierung, insbesondere durch eine entsprechende konkrete und situationsbezogene polizeiliche Lagebeurteilung, ver­missen.

Darüber hinaus ist zu beachten, dass Gefahren infolge angekündigter Gegendemonstrati­onen durch behördliche Maßnahmen gegen den Störer, also die Gegendemonst­ranten, die sich die Verhinderung oder Störung der zuerst angemeldeten Demonstration zum Ziel gesetzt haben, zu begegnen ist. Gegen die Versammlung als ganze darf in einer solchen Situation grundsätzlich nur unter den beson­deren Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingeschritten werden (vgl. BVerfGE 69, 315, 355, 360 f.). Es sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass etwai­gen sich aus Gegenveranstaltungen ergebenden Gefahren nicht durch die Erteilung von Auflagen begegnet und eine für die polizeili­chen Einsatzkräfte beherrschbare Lage sichergestellt werden kann.

Das Versammlungsverbot lässt sich auch nicht auf eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung stützen. Die Stadt beruft sich darauf, bereits die Anschauungen des Antragstellers seien mit grundgesetzlichen Wertvorstellungen unvereinbar bzw. das Verbreiten neona­zistischen Gedankenguts verletze grundlegende soziale und ethische Anschauungen vie­ler Menschen und im besonderen Maße der Bürger der Stadt, die eine liberale und weltoffene Stadt sei. Diese auf die Grundanschauungen des Antragstellers und den Inhalt der erwarteten de­monstrativen Meinungsäußerung abstellende Begründung des Versammlungsverbots ist verfassungsrechtlich nicht tragfähig. Solange das Bundesverfas­sungsgericht ein Parteiverbot bzw. die Verwirkung von Grundrechten nicht festgestellt hat, darf eine für verfassungsfeindlich gehaltene Partei zwar politisch bekämpft, ihre Grundrechtsausübung aber grundsätzlich nicht unterbunden werden.

Das Tatbestandsmerkmal der Gefährdung der öffentlichen Ordnung kann auch erfüllt sein, wenn über den bloßen Inhalt hinaus Besonderheiten der Demonstra­tion gegeben sind, beispielsweise pro­vokative oder aggressive Begleitumstände, die einen Einschüchterungseffekt sowie ein Klima der Gewaltdemonstration und potentieller Gewaltbereitschaft erzeugen. Dies kann z. B. bei Mitführen bestimmter Gegenstände (z. B. Landsknechttrommeln, Fa­ckeln, Fanfaren, Fahnen u.ä.), beim Tragen uniformartiger Kleidungsstücke, beim Auftre­ten in Marschordnung oder beim Skandieren bestimmter Parolen der Fall sein. Denn das in diesem Zusammenhang ein­schlägige Grundrecht der Versammlungsfreiheit schützt Aufzüge, nicht aber Aufmärsche mit paramilitärischen oder sonst einschüchternden Begleitumständen. Inwieweit derartige die öffentliche Ordnung störende Begleitumstände mit der von dem Antragsteller geplan­ten Demonstration verbunden und inwieweit sie durch Auflagen zu unterbinden sein wer­den, wird erst noch abschließend von der Stadt zu beurteilen sein.

Abschließend verweist die Kammer auf den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, der in einem Beschluss vom 30.4.2002 in einem ähnlichen Verfah­ren allgemein ausgeführt hat:

„Insgesamt hat die Stadt mit ihrer Verbotsverfügung die Vorgaben des Bundesverfassungs­gerichts missachtet. Indes ist sie als Teil der vollziehenden Gewalt gemäß Art. 20 Abs. 3 GG (nicht anders als die Gerichte) an Gesetz und Recht und damit insbe­sondere an das Grundgesetz gebunden. Dieses hat die Absage an den Nationalsozialis­mus nicht zuletzt auch in dem Aufbau allgemeiner rechtsstaatlicher Sicherungen doku­mentiert, deren Fehlen das menschenverachtende Regime des Nationalsozialismus ge­prägt hatte. In der Beachtung rechtsstaatlicher Sicherungen - auch beim Umgang mit Gegnern des Rechtsstaats - sieht das Grundgesetz eine wichtige Garantie gegen das Wiedererstehen eines Unrechtsstaates. Zu den rechtsstaatlichen Garantien gehören die Kommunikationsfreiheiten (Art. 5 Abs. 1 und 2, Art. 8 GG), auch und gerade für Minder­heiten (vgl. BVerfG, 1. Kammer des 1. Senats, Beschl. v. 01.05.2001, NJW 2001, 2076, 2077). Diese Garantien können nicht dadurch unterlaufen werden, dass die Exekutive be­stimmten Parteien oder Personen den Schutz der Grundrechte aus Art. 5 und Art. 8 GG generell vorenthält und diese immer erst durch die Inanspruchnahme der Verwaltungsge­richte gesichert werden können.“

Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Die Stadt Singen kann Beschwerde beim Verwaltungsgerichthof Baden-Württemberg mit Sitz in Mannheim erheben.

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